„Schau mal da drüben!“ rief Lili aufgeregt. Vivo drehte ihren Kopf in die Richtung, die die kleine Fee ihr wies. „Siehst du den Falter dort am Stamm der Kiefer?“. Die Prinzessin strengte ihre Augen ganz doll an und trat ein gutes Stück näher. Da sollte ein Schmetterling sitzen? „Na dort, direkt vor deiner Nase“, kicherte Lili.
Jetzt fiel er auch Vivo auf. Der Falter war perfekt getarnt, die an den Stamm anliegenden Flügel hatten genau dessen Farbe und Maserung. Man sah ihn nur, wenn man wusste, dass er da war.
„So ist das auch mit dem Pazifismus, Vivo. Er ist da, weil wir ihn sehen.“ Bevor Vivo etwas erwidern konnte, hatte sich Lili bereits in Fahrt geredet: „Dieser kleine Freund hier ist überhaupt ein Paradebeispiel für wahren Pazifismus. Er ist überhaupt nicht aggressiv, hält sich aus allem raus und schadet dabei auch seinem Baum nicht …“
Ging das schon wieder los. Vivo hätte sich am liebsten die Ohren zugestopft. Ständig kam Lili auf das gleiche Thema und schon seit geraumer Zeit nervte sie damit ungemein. Die Vergleiche der kleinen Fee waren immer sehr bildreich, aber sie hinkten so gewaltig, als hätten sie zwei unterschiedlich lange Holzbeine.
Zuerst hatte die Prinzessin der kleinen Fee immer begeistert zugehört. Die beiden hatten sich an einem Wasserfall beim Zählen der Farben dreier Regenbögen kennen gelernt und sich angefreundet. Mit der Zeit hatten sie sich immer öfter getroffen und ausgedehnte Erkundungsspaziergänge unternommen, dabei gerne und viel geredet, und das vor allem über ein Thema, welches zwar auch irgendwie wichtig war, aber irgendwann halt ... na ja, das leckerste Bonbon hängt einem irgendwann einmal zum Halse raus, wenn man es jeden Tag lutscht…
Jedenfalls nickte Vivo meist und sagte auch jetzt immer wieder automatisch „Hmhm“, „Sicherlich“ und „Ja klar“. Lili dozierte in einer Tour und vergaß dabei alles um sich herum. Vermutlich hätte sie gar nicht mal bemerkt, wenn sie jetzt allein … Die kleine Prinzessin verschwand kurz hinter einem Baum. Lili hatte es tatsächlich nicht bemerkt und sprach reich gestikulierend weiter, langsam dem Pfad folgend, auf dem beide die ganze Zeit wanderten.
Vivo entschloss sich nun zu einer Gegenstrategie und trat wieder zu ihrer Freundin. Sie hatte viel von der kleinen Fee über Pazifismus gelernt, aber der ganze Eifer musste jetzt mal ein wenig gebremst werden. Sie wollte den Advocatus Diaboli spielen, jenen finsteren Antagonisten, der eine Argumentationskette mit messerscharfen Gegenargumenten in ihrer Plausibilität und Stichhaltigkeit zu erschüttern sucht und schaut, ob er nicht doch noch ein Haar in der Suppe findet. „Wenn der Falter pazifistisch ist, warum setzt er sich dann nicht für den Frieden ein?“
„Was?“ Lili stockte in ihrem Vortrag und schaute verdattert. Vivo hatte sie tatsächlich aus dem Konzept gebracht und wiederholte ihre Frage.
„Er setzt sich doch für den Frieden ein. Er LEBT den Frieden. Niemandem tut er etwas.“
„Jaja, aber er handelt doch nicht. Er bleibt passiv.“
„Das muss er doch auch nicht. Natürlich bleibt er passiv. ’Passiv’ und ’Pazif…ismus’“, Lili betonte den ersten Teil des Wortes „Pazifismus“ besonders, „leiten sich doch vom gleichen …“
Vivo merkte, dass sie sofort intervenieren musste, wollte sie nicht wieder in einem Wortschwall untergehen. Sie unterbrach direkt: „Das mag ja alles sein, aber was wäre, wenn jetzt um den Falter herum Krieg herrschen würde? Sagen wir – nur mal so aus Quatsch: Ein Krieg der Ameisen gegen die Termiten. Der Arme wäre mitten drin und schließlich wäre ja auch seine Welt damit bedroht.“
Lili verstand immer noch nicht so genau, worauf ihre Freundin hinaus wollte. Natürlich war ein Krieg quatsch, zumal für einen Schmetterling. Überhaupt passten die beiden Wörter nicht einmal gleichzeitig in einen sinnvollen Satz. Leicht verärgert erwiderte sie: „Selbstverständlich würde sich der Falter neutral verhalten. Er ist doch gut getarnt, der Krieg würde bestimmt spurlos an ihm vorbei gehen.“
„Machst du es dir da nicht ein wenig zu einfach? Demnach wäre ja ein Stein der perfekte Pazifist. Einfach nichts tun. Faul rumliegen. Die Dinge regeln sich dann von selbst …“
„So ein Unsinn!“ fuhr Lili ungehalten dazwischen, „Ein Stein kann schon mal gar nix anderes sein, als ein Stein, schließlich ist er ja kein Lebewesen. Steine sind von Natur aus …“
Vivo sah die nächste Wortlawine auf sich zurollen und beeilte sich zu sagen: „Trotzdem, wer Pazifist sein möchte muss sich doch auch aktiv für den Frieden einsetzen, oder nicht? Heißt Pazifismus nicht auch, sich um eine friedliche Welt um sich herum zu bemühen? Reicht es da, nichts zu tun?“
„Aber der Falter geht doch als gutes Beispiel voran. Jeder kann ihm folgen und sich von ihm inspirieren lassen …“
„Du vergisst, dass man ihn nicht sieht“, warf Vivo ein.
Lili überhörte den Einwand. „… und damit tut er viel mehr, als man von ihm erwarten kann.“
„Du vergisst, dass man ihn nicht sieht!“ „Bitte?“
„Er ist getarnt. Man SIEHT ihn nicht. Wie soll er da als leuchtendes Beispiel und Inspiration für andere dienen. Er liegt nur faul auf der Rinde.“
’Faul’ war natürlich kein wirklich passendes Wort. Vivo wusste das, aber sie wollte Lili ja schon ein wenig aus der Reserve locken. Sie hoffte, die beiden würden auf diese Weise bald mal mangels Einigkeit in dieser Sache einen Themenwechsel vornehmen.
Lili kam allerdings auf einen anderen Trichter: „Jetzt verstehe ich, was du mir durch die Blume sagen willst: Ich bin zu FAUL.“
„Neinnein“, beeilte sich Vivo zu sagen, “„das würde ich niemals ...“
„Du meinst, wo Worte sind, müssen auch Taten folgen.“ Lili ließ sich nicht beirren. Ihre Augen flackerten, wie immer, wenn sie begann sich in Rage zu reden. „Du hast recht! Untätigkeit allein kann niemals reichen. Das gute Beispiel ist das Mindeste, was eine wahre Pazifistin zu bieten hat, aber noch wichtiger ist es, der Gewalt mutig entgegen zu treten.“
Die beiden waren inzwischen an einer Lichtung angelangt, auf der zwei brunftige Elche ihre Geweihe aneinander ausprobierten.
„Ich werde dir zeigen, dass ich keinesfalls faul bin“, rief Lili und stürzte los in Richtung der Elche, „Ich trete der Gewalt mutig entgegen. Ich werde als leuchtendes Beispiel ein Zeichen setzen, dass Krieg sich nicht lohnt und dass Aggressionen der falsche …“
Die wachsende Entfernung zwischen den beiden Freundinnen ließ Vivo die letzten Worte von Lili nicht mehr vernehmen.
>>KRACH<< Die Geweihe schlugen heftig gegeneinander, immer und immer wieder …
Nach gefühlten Stunden wurde es still. Die Kämpfer hatten sich verzogen und Vivo seufzte. Mal wieder würde sie ihre Freundin zusammensammeln müssen, genau wie nach der Sprachexpedition zu den Feuerameisen oder nach der Geschichte, als Lili sich unbedingt das Maul eines gähnenden Sägezahnkrokodils von innen anschauen wollte.
Andererseits zeigte der Pazifismus sich doch gerade von seiner besten Seite: Endlich Ruhe!