Um es gleich vorweg zu nehmen: Es war ein Traum. Und wie es sich für einen Traum gehört, bleibt vieles im Nebulösen verborgen. Ich habe beim Aufschreiben dieser Geschichte gar nicht erst versucht, die offenkundigen Täler, um nicht zu sagen: Schluchten des Vergessens, wortreich zu überbrücken oder die logischen Lecks abzudichten, durch die ein steter, forscher Fragenwind mit einem lauten „Hääh??“ hindurchstöhnt. In den wesentlichen Punkten war der Traum so real, so plastisch, dass ich mich auch heute noch daran erinnern kann, als wäre es eben erst geschehen.
Wir waren eine Hand voll Erwachsene, vielleicht sechs oder sieben, und zwei oder drei Kinder, darunter auch meine elfjährige Tochter. Eines der Kinder war Grund für unseren Aufenthalt in der Klinik, und zwar ein kleines Mädchen im Alter von etwa 6 Jahren. Soeben hatte es eine Münze erhalten, begleitet von den Worten: „Hier hast du zwei Mark“, (es war übrigens ein Zwei-Euro-Stück), „die gibst du gleich der Schwester zur Aufbewahrung. Sie wird dir eine Medizin verabreichen, die dich ganz müde macht, sodass du einschläfst. Und wenn du wieder aufwachst, kaufst du dir von dem Geld ein leckeres Eis.“ Die Begeisterung des Kindes war deutlich an den strahlenden Augen ablesbar. Es lief einen Gang hinunter und war bald verschwunden. Der Rest von uns blieb vor einem Zettel zurück, weiß, DIN A5. Der Name des Mädchens stand oben in der Mitte, gefolgt von zwei Unterschriften der Erziehungsberechtigten, die ebenfalls mittig auf das Blatt gesetzt worden waren. Unmittelbar darunter war das Wort „aufgeklärt“ notiert worden. Alle anderen Erwachsenen sollten nun dort unterschreiben. Gleich wäre ich an der Reihe und zögerte. „Worüber wurde sie denn aufgeklärt? Weiß sie was passiert?“ Drucksen. Ausweichen. „Naja ...“ Ich kam in Wallung: „Das ist doch Quatsch dann. Warum soll ich das auch noch unterschreiben?“ Ich wandte mich an die anderen: „Lasst das sein, es ist Unsinn. Hier wurde niemand aufgeklärt.“ Aber es war auch irgendwie egal. Mehrere Unterschriften trug dieses formlose Blatt nun, dazu einen Namen und dieses eine Wort, gefolgt von einem Doppelpunkt:
„aufgeklärt:“
Mehr stand dort nicht. Kein Kopf, kein Siegel, keine vorgedruckten Formularelemente, nichts sonst.
Es war ja nicht so, dass wir das Kind über das Procedere aufgeklärt hätten. Mit uns selbst wurden auch nicht viele Worte gewechselt. Es war doch eigentlich alles klar. Wir sollten hier nur dokumentieren, dass das Klinikpersonal korrekt informiert hatte und alles seinem geregelten Gang folgte. Die Ansprache an das Kind enthielt nicht einmal die halbe Wahrheit, eigentlich fast gar keine. Ich wandte mich zum Gehen, ohne den Stift auch nur in die Hand genommen zu haben.
Unsere Gruppe verließ den Ort der Unterschriftenleistung und kam auf den Empfangsbereich der Klinik zu. Es war ein Anderthalb- bis Zwei-Personen-Konferenzraum-Tisch, nicht viel größer als ein Camping-Klapptisch. Dahinter saß rechts ein Mann mittleren Alters in einem Kittel, dessen Aussehen keine Frage danach aufkommen ließ, dass hier zweifellos ein Arzt sein Sitzfleisch für die Begrüßung der Besucher zur Verfügung stellte. Links neben dem Mann saß ein dunkelhäutiges Mädchen mit einer Nickelbrille auf der Nase. Ihr Blick war neugierig-vergnügt, aber auch ein wenig geschäftig. Sie unterstützte ihren Nachbarn sicher nach Leibeskräften und schaute uns, die wir ihrem Tisch immer näher kamen, erwartungsvoll an.
Wir hatten sie noch nicht erreicht, als sie plötzlich zusammenbrach und unter den Tisch rutschte. Dabei bäumte sie sich mehrfach auf, versuchte, sich an irgendetwas hochzuziehen, irgendetwas zu greifen und Halt zu finden. Vergeblich. Sie sackte mehrfach zusammen. Ihre Augen waren dabei geschlossen, beinahe so als schliefe sie. Wieder zuckte der ganze Körper, ein Unterschenkel winkelte sich an, die Arme hoben sich etwas, um gleich darauf wieder kraftlos herabzusinken. Die Kleine wirkte auf mich, als erlebte sie gerade einen sehr intensiven Traum und bewegte sich dabei im Schlaf. Die Situation war seltsam, aber dennoch nicht unbedingt bedrohlich. Niemand regte sich. Keiner kam dem Mädchen zur Hilfe. Der Empfangsarzt saß teilnahmslos daneben. Wie die anderen aus unserer Gruppe schaute ich unbeweglich und sehr gebannt. Dennoch durchfuhr es mich: „Warum hier? Warum denn ausgerechnet hier?“ Es war offensichtlich, dass auch dieses Mädchen etwas von der „Medizin“ bekommen hatte, die in diesem Hause gereicht wurde. Bis zum Schluss hatte man sie in dem Glauben gelassen, sie würde bestimmt auch mal Ärztin.
Meine Tochter begriff sehr schnell, worum es ging. Das verklausulierte Gehabe der Erwachsenen hatte sie nicht lange getäuscht. Sie wusste, dass sie nicht viel tun konnte. Das eine aber doch: Sie lief die letzten paar Schritte zu dem Tisch und blieb direkt an dessen linker vorderer Ecke stehen. Unter dem Tisch lag das noch zuckende Mädchen. Im ersten Augenblick dachte ich, meine Tochter lacht über die komische Situation und das für sie vielleicht drollig wirkende Kind in seinen traumartigen Reflexbewegungen. Ich hätte mich nicht mehr irren können. Sie stand dort und weinte. Ihr Blick wechselte zwischen dem Mädchen und uns hin und her und sie weinte noch lauter.
Helfen konnte meine Tochter ihr nicht, aber sie konnte der Sterbenden nah sein. Sie konnte mitleiden und dieses Leid den Umstehenden laut und deutlich in die Ohren hämmern. Sie konnte die Kluft hin zum Sterben auf weniger als eine Armlänge überbrücken; mehr war im Diesseits nicht möglich. Sie konnte das Leid in sich aufnehmen, es für alle Anwesenden spürbar machen und uns Mittäter gleichsam in ihrem Weinen auf durchdringendste Art anklagen.
Das Mädchen unter dem Tisch bekam davon vermutlich nichts mehr mit. Sie war schon zu Beginn ihres Todeskampfes weggetreten.
Als ich erwachte und über diese surreale Situation nachdachte, habe ich geweint. Ich war von dieser Empathie, diesem mitfühlenden Wesen ergriffen und hätte, trotz aller Scham, stolzer nicht sein können.
"Düster bis Stürmisch"
"Stachels Festungspostille II"