Kennen Sie das? Manchmal läuft man den ganzen Tag mit einem kaum loszuwerdenden Ohrwurm herum, summt, pfeift oder singt andauernd das gleiche Stück. Oft ist es ja so, dass man solch ein prägnantes Lied im Vorübergehen aufschnappt, zum Beispiel weil man an einem Radio vorbeigekommen ist oder die Büronachbarin vor sich hin trällert. Mein letzter Ohrwurm ist mir einfach so zugeflogen. Ich weiß nicht woher er kam, aber „Hevenu schalom alechem“ hing mir beständig auf den Lippen. Mal sang ich es auf Hebräisch, mal auf Deutsch „Wir wollen Frieden für alle“. Das Lied kenne ich aus Kindertagen. Wir haben es früher oft gesungen, ob im Kindergarten, später in der Schule oder sonst in der Gemeinde. Ich mag die traurige, beinahe klagende Melodie und das sentimentale Gefühl, dass mich bei dieser Art von Musik regelmäßig erfasst.
Meine alte Religionslehrerin kam mir in den Sinn. Sie hatte uns damals von einer Begebenheit erzählt, die sie wohl sehr beeindruckt hatte. Es mag ein Kirchentag gewesen sein oder eine andere größere Zusammenkunft religiöser Natur, heute weiß ich das nicht mehr. Ein aufgebrachter Herr hatte sich das Mikrofon geschnappt und ungefragt angefangen zu palavern. Er ließ sich auch nicht von den Veranstaltern beruhigen, noch gelang es jemandem, ihm das Mikrofon zu entwinden. Der Mann hatte eine Botschaft, die er unbedingt loswerden musste. Plötzlich begann jemand im Publikum mit einem Lied, andere stimmten sofort mit ein und nach kurzer Zeit war der ärgerliche Herr trotz elektrisch verstärkter Stimme vollkommen übertönt und musste sein Ansinnen aufgeben. Er trottete geschlagen von dannen. Das Lied „Herr, gib uns deinen Frieden“ hatte gesiegt. Laut, aber friedlich.
Das wäre die Gelegenheit für einen neuen Ohrwurm gewesen, aber für mich blieb es an dem Tag bei „Hevenu schalom alechem“. Ich stellte mir eine ähnliche Situation vor. Ich stellte mir vor, ich würde bei dem Besuch einer Synagoge einen eben erst eskalierenden Streit zwischen mehreren Personen erleben. Zwar konnte ich nichts davon verstehen, aber ich stimmte das Hevenu an. Mehrere Leute drehten sich zu mir um und sahen mich etwas unsicher an, sicherlich nicht unsicherer als ich für meinen Teil in diesem Augenblick. Zweimal sang ich in meiner Vorstellung auf Hebräisch und mehrere Umstehende fielen mit ein. Das Lied gehört zum jüdischen Kulturgut und ist daher sehr weit bekannt. Auch die Streitenden hielten kurz inne und wendeten sich um, ungläubiges Staunen in den immer größer werdenden Augen und Mündern, als mehr und mehr Stimmen hinzutraten. Dann wechselte ich für zwei Strophen auf Deutsch, sah einen der Streitbeteiligten erwartungsvoll an und ermunterte ihn mir reichen Gesten. Ich hatte mich nicht getäuscht. Vielleicht war er Palästinenser, jedenfalls verstand er was ich wollte und sang weitere zwei Durchgänge auf Arabisch. Auch hier konnten einige andere Personen direkt einstimmen.
Ich weiß nicht, wie der Streit weitergegangen sein könnte, aber die Eskalationsspirale war nun unterbrochen. Ob das Lied überhaupt eine arabische Version hat und wie diese klingen würde, vermag ich ebenso wenig zu sagen. Mit den Gedanken war ich schon wieder im Hier und Jetzt, sang aber noch immer zweisprachig abwechselnd vor mich hin.
Abends hörte ich in den Nachrichten, dass es in Jerusalem und Gaza zu den schwersten Ausschreitung seit Jahren gekommen war.
"Düster bis Stürmisch"
"Stachels Festungspostille III"