Es war einmal eine große Hausgemeinschaft in einem großen Hochhaus mit fast 20 Etagen. Genauer gesagt waren es 19 ½ Etagen. Warum es allerdings eine Halbetage gab und wo diese war, wusste eigentlich niemand. Auf jeder Etage befanden sich mehrere Wohnungen, meist acht an der Zahl, und in fast jeder Wohnung wohnten auch Menschen, meist sogar mehrere. Es gab alte Menschen, junge Menschen, Menschen mit Behinderungen und mit Migrationshintergrund, Menschen mitten aus dem Berufsleben und Menschen, die noch zur Schule gingen, … oder radelten, … oder gefahren wurden. Es gab Bäcker, Schornsteinfegerinnen, Metallarbeiter, Polizistinnen, Hausmeister, Lehrerinnen, Kindergärtner, Verkäuferinnen, Schmiede, Bankangestellte, Finanzbeamtinnen und noch viele andere mehr. Insgesamt bildeten all diese Menschen eine ziemlich große Hausgemeinschaft. Manchmal zogen welche aus und andere wieder ein, aber kaum eine Wohnung stand leer und wenn, dann nicht für sehr lange.
Viele Mitglieder der Gemeinschaft mochten ihr Haus. Es war ihr Lebensmittelpunkt, ihr Rückzugsort, ihr Bollwerk gegen das wilde Leben da draußen oder einfach: ihre Heimat. Die meisten sorgten auch dafür, dass es ordentlich blieb. Es gab Putzpläne für die Treppenhäuser, Pläne für die Rasenpflege rings um das Haus, für den Winterdienst und die Sauberkeit in der Tiefgarage und allen sonstigen Anlagen. Natürlich kam es immer mal wieder dazu, dass Müll im Treppenhaus lag, und zwar fast immer im Erdgeschoss in der Nähe der Eingangstüren. Keiner wusste, wer ihn dort hatte liegen lassen, abgesehen natürlich von den Verursachern. Aber jeder konnte dafür verantwortlich sein, denn im Erdgeschoss kamen alle vorbei. Je höher man im Haus kam, desto sauberer wurde es. Es waren ja immer weniger Leute, die die Etagen nutzten und natürlich wurde auch der Kreis der Verdächtigen immer kleiner, so dass man mehr und mehr Acht gab. Zwar war das ziemlich ungerecht, aber der Müll im Eingang wurde irgendwie immer mit den angrenzenden Wohnungen in Verbindung gebracht.
Eines Tages setzte eine Zigarette auf einem Sofakissen das Wohnzimmer und kurz darauf die ganze Wohnung einer jungen Briefzustellerin in der 17. Etage in Brand. Die Frau merkte es nicht sogleich, schlummerte sie doch in einem angenehmen Schaumbad und hatte die Kippe völlig vergessen. Der Qualm zog schon unter der Wohnungstür durch ins Treppenhaus, als ein älterer Herr, der mit zwei schweren Einkaufstüten beladen den Treppenabsatz erreichte, den brenzligen Geruch bemerkte, die Tüten fallen ließ und so schnell wie möglich in seine gegenüberliegende Wohnung stürzte, um die Feuerwehr zu alarmieren. Trotz Fachkräftemangel und knappem Budget kam der Löschzug auch innerhalb weniger Viertelstunden an, als schon Flammen aus den geborstenen Fenstern schlugen. Zeitgleich trafen drei Streifenwagen der Polizei ein, um den Bereich großzügig für die Rettungsarbeiten abzusperren und das Wohnhaus zu evakuieren. Der weitere Verlauf gestaltete sich als äußerst chaotisch und nur im Rückblick konnte das eine oder andere, manches nicht mal mehr chronologisch, rekapituliert werden:
Die Einsatzkräfte wurden von zwei Balkonen aus dem ersten Stock mit übrig gebliebenen Silvesterraketen unter Beschuss genommen, heftig angefeuert von Schlachtgesängen aus dem dritten und fünften Stock, die abwechselnd „Nothing compares to a dead cop“ und „Fire, Fire, Lady“ skandierten.
Etwa die Hälfte der Wohnungstüren wurden bei den Evakuierungsbemühungen nicht geöffnet. Teils brüllten die Leute „Wir kaufen nichts an der Tür!“, teils scholl es „Ihr kriegt mich hier nie raus, ihr Schweine!“ den Beamten entgegen. Das meiste aber waren Tiraden unverständlicher Flüche. Von denen, die die Tür öffneten, waren dennoch kaum welche zum Gehen zu bewegen. Manche meinten, es sei ja nicht ihre Wohnung, die brenne und so lange das Feuer noch so weit weg sei, würden sie bleiben. Ein paar hatten Angst vor Plünderungen, insbesondere durch die Uniformierten. Wieder andere erklärten den Rettern, dass das Feuer sowieso nicht nach unten kommen würde. Wärme gehe immer nach oben und deshalb schlügen auch die Flammen immer nur aufwärts. Das sehe man ja auch gerade. Deshalb werde das Feuer schon alleine ausgehen. Außerdem sei für alle Fälle die Feuerwehr da (wie immer, wenn die Behörden was zu vertuschen haben …)!
Eine ältere Dame war hochgradig erbost, weil das Löschwasser ihre schönen Perserteppiche ruiniere, obwohl sie nichts falsch gemacht habe und drohte mit einer Millionenklage. Man musste sie mühsam hinaustragen, während sie schon mit ihrem Anwalt telefonierte, jedenfalls solange, bis das Kabel aus der Wand riss.
Zwei ganz pfiffige Kerle aus der vierten Etage fanden es eine gute Idee, da das Haus ja ohnehin brennt, mal ihren ganzen Müll im Erdgeschoss mit abzufackeln. Da bleiben ja auch weniger Beweismittel, falls die Bullen mal die Fingerabdrücke auf den Getränkeverpackungen checken sollten, die sie da unten immer versehentlich vergessen hatten.
Auf mehreren Etagen fühlten sich spontan Personen als Bürgerreporter berufen und filmten die Flammen und die komischen Leute in den Atemanzügen, die gerne die inzwischen vielzähligen Brände gelöscht hätten, aber an die meisten Brandherde wegen des Andrangs nicht herankamen. Zudem tauchten zwischendurch auf zwei der Flure Menschen auf, die buchstäblich erschüttert einsehen mussten, dass ihre selbst geklebten Kopfbedeckungen aus dünner Metallfolie nicht wie erhofft gegen Orgonstrahlen aus den Rauchgasen schützten. Leider konnten sie diese wichtige Erkenntnis später niemandem mehr mitteilen.
Einige ganz verwegene Party-People räumten kurzer Hand ihre Sofas auf die Flure und hielten, mit Bermudas bekleidet, lange Stöcke mit aufgespießten Würstchen ins Treppenhaus, währen sie lauwarme Cervisia in und aus hohen Dosen in ihre angespannten Kehlen stürzten. Ein großer Eimer Popcorn machte die Runde.
Drei Techno-Typen aus dem 15. Stock fanden derweil, dass sie ihren 3-Jahresvorrat an Hochprozentigem jetzt ohnehin nicht mehr genießen könnten und warfen die Flaschen scheppernd an die Wände, wobei sie einen Flammentanz choreografierten, während sie lauthals „Der Teufel ist ein Eichhörnchen“ mit allerlei Varianten rappten. Fast schon schön anzuhören, jedoch ging das ganze vermutlich schnell im Raucherhusten unter, wie der Pathologe einige Tage später konstatieren sollte.
Die Leute aus den obersten Etagen waren relativ früh von allen Rettungswegen abgeschnitten und versuchten verzweifelt mit Gießkannen und nassen Tüchern eine Löschkette zu bilden. Ihr Beitrag war nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Beton und so mussten sie nach wenigen Minuten aufgeben und auf das Dach flüchten. Dort angekommen konnten sie sich nur noch in der Mitte zusammenkauern, weil auf allen Seiten des Gebäudes Flammenwände empor leckten.
Ein weltweites Team von Bastlern und IT-Nerds, die sich, einem Spendenaufruf zur laufenden Katastrophe im Internet folgend, in einer unglaublichen Geste der Hilfbereitschaft online zusammenschalteten, organisierten in Windeseile eine erkleckliche Flotte von Quadrokoptern, die von einer schnell zusammengezimmerter KI selbstorganisierend ein Bergenetz auf dem Dach ausbreiten und schließlich emporheben sollten, um die unglücklich Eingeschlossenen von dort sicher abzuholen. Leider konnte der Algorithmus die Thermik nur unzureichend kalkulieren, so dass ein von den Rotoren angetriebener Flammentornado das gesamte Dach in den Vorhof der Hölle verwandelte und glühende Kopterteile überall dort zu Boden schepperten, wo sie nicht von instant verkohlenden Körpern abgepuffert wurden.
Im Keller versammelten sich mehrere Prepper, die nun endlich den Sinn ihrer Vorbereitungen bestätigt sahen und sich häuslich einbunkern wollten, gerieten dort jedoch in Konflikt mit zwei jungen Pärchen, die, bewaffnet mit Spitzhacken und Spaten, schon mal ein paar Steine für ihre kommenden Bleiben „abbauen“ wollten. Ob die Hacken schließlich absichtlich in mehreren Leibern gelandet waren, konnte nach der Freilegung des Kellergeschosses allerdings niemand mehr auseinandersortieren. Immerhin war man aber in der Lage, noch die meisten Körperteile zu finden und zuzuordnen.
Zwei verfeindete Familienclans, die unter sich die 10. und 11. Etage aufgeteilt hatten, fanden es einen ausgezeichneten Gedanken, den Tumult für eine endgültige Beendigung der Familienfehde zu nutzen. Sie schlugen ein, allerdings nicht in offen gehaltene Hände, sondern mehrere Türen. Auf diese Weise entstand noch ein Bisschen mehr Kleinholz zum Zündeln. Zudem flogen diverse blaue Bohnen, das ein oder andere Messer blitzte auf und einige Kanister Benzin ergossen sich auf am Boden zuckende Körper. Besagte Messer und das Benzin waren übrigens eben erst mittels DEBTS (DullyExpress Balcony Target Shipping, ®) via Amazon-Dronen just-in-time und zielgenau ins Krisengebiet geliefert worden.
Plünderungen gab es wohl tatsächlich. Diese konnten jedoch nicht mehr aufgeklärt werden, denn offenbar hatte man sich arg verschätzt. Kein Plünderer und keine Plünderin schafften es rechtzeitig nach Draußen. Zumindest konnte letztlich niemand das eigene oder anderer Leute Hab und Gut hinaustragen und im Haufen der Trümmer und Leichen war der Rest nicht mehr zu ermitteln.
Im Nachgang wurde festgestellt, dass eine erkleckliche Zahl von Liveberichten und sonstigen Posts den Weg aus dem Haus in das Licht der Öffentlichkeit aller möglichen und unmöglichen sozialen Netzwerke gefunden hatte. Allein in den wenigen Stunden des Brandes waren drei Verschwörungserzählungen kolportiert worden, die vielen weiteren, die nicht unmittelbar von Bewohnern stammten, nicht mitgezählt.
In einer eilig anberaumten Pressekonferenz bedauerte eine Behördensprecherin überausdrücklich und stark emotionalisiert die Katastrophe, wobei sie einräumte, dass es sicherlich zu einigen wenigen und sehr kleinen Pannen gekommen sein mag, diese werde man – wie übrigens immer – sehr intensiv und vollumfänglich aufarbeiten. Sie ließ es sich dabei nicht nehmen, einen besonders positiven Aspekt hervorzuheben, der reibungslos funktioniert habe: So waren sämtliche Bewohner so verständig und aufmerksam gewesen, bei diesem schrecklichen Flammeninferno die Fahrstühle zu meiden, wie es immer und immer wieder bei Brandübungen geprobt wurde und auch hinreichend in den Fahrstühlen zu lesen sei, äh … war. Nun, es könne gewiss auch daran gelegen haben, dass bei der maroden Elektrik sehr frühzeitig die gesamte Spannungsversorgung im Block zusammengebrochen sei, und dadurch die Fahrstühle ohnehin unbenutzbar geworden waren. Eine kleine Restunsicherheit bliebe da wohl bedauerlicherweise bestehen.
Ich hätte die ganze Geschichte selbst nicht für möglich gehalten, wenn sich da nicht an anderer Stelle gewisse Parallelen abzeichnen würden, nur mit dem Unterschied, dass das Haus kein Haus ist, sondern unsere Erde. Aber wer wäre schon so verrückt, sich die eigene Lebensgrundlage zu zerstören? Der denkende Mensch doch sicher nicht!