Bello liebte sein Herrchen. Wehmütig dachte er an Zeiten, in denen
alles besser gelaufen war. Zeiten, in denen auch er besser gelaufen
war und natürlich viel schneller. Und viel öfter. Nun lag er in seinem
Körbchen, hatte den Kopf auf die Vorderpranken gelegt und starrte
mit feuchten, müden Augen vor sich hin. Das Halsband, das über
eine kurze Leine mit dem Henkel seines Körbchens verbunden war,
zwickte ziemlich, aber Bello ignorierte die Enge an der Kehle. Er
atmete einfach ruhig und langsam, dann bekam er auch genügend
Luft.
Als die beiden sich das erste Mal sahen, hatte es sofort gefunkt.
Zumindest wusste Herrchen sofort: „Das wird meiner!“. Herrchen
hatte sich in das tapsige Fellknäuel verguckt und war direkt von
dessen wachen, fast schelmischen Augen fasziniert gewesen. Bello
war sich zwar nicht sofort so sicher, aber er gewöhnte sich schnell an
Herrchen und die neue Umgebung. Die ersten Monate machten sie
gemeinsam immer ausgedehntere Spaziergänge, erkundeten die
Umgebung, kannten bald jeden Feldweg, jeden Weiher. Bello wurde
nie müde, die vielen Stöckchen zu holen. Er war ein ausgesprochen
kreativer Hund und ließ sich stets neue Kunststückchen einfallen, mit
denen er Herrchen zum Lachen bringen konnte. Wenn dieser
schallend losprustete, sprang Bello wie wild auf allen Vieren um ihn
herum, hüpfend wie ein Gummiball und wedelte so kräftig mit
seinem Schwanz, als wollte er einen ganzen Schwarm Mücken davon
abhalten, seinen Rudelführer anzufallen.
Mit der Zeit wurden die Spaziergänge weniger. Herrchen hatte viel
zu tun und irgendwie wurde die Arbeit immer wichtiger. Oft
begrüßte er Bello mit den Worten: „Ich freue mich schon total auf
unseren Spaziergang heute Abend.“ Natürlich wurde er dafür mit
kräftigem Schwanzwedeln empfangen.
Doch die Abende verliefen anders. Wenn Bello, immer noch
wedelnd, zur passenden Zeit vor Herrchen auftauchte, sagte der nur:
„Heute bin ich müde. Wir gehen morgen, dann aber ganz bestimmt.“
Die abflauenden Momente der Zweisamkeit und des gemeinsamen
Herumtollens verfehlten ihre Wirkung nicht. Bello stellte das
Schwanzwedeln schließlich ganz ein. Er verlernte die Vorfreude
beinahe komplett. Selbst, wenn sie dann doch mal wieder die Feld-
248und Waldwege erkundeten, ließ Bello seine Rute hängen und
Herrchen japste: „Ich glaube, ich bin gar nichts mehr gewohnt.“
Dann ließ er sich auf der nächsten Bank nieder, streichelte Bellos
Kopf und sagte: „Wir müssen unbedingt öfter raus, wir sind beide
überhaupt nicht mehr fit. Du hast richtig zugelegt und auch ich war
früher ein wenig schlanker.“ Bello sah das genauso. Herrchen hatte
alle Drahtigkeit und allen Schneid verloren. Er war ein Hefeklops,
der zwar langsam, aber stetig reifte.
Die guten Vorsätze wurden mehr als einmal erfolglos gefasst und zu
der allabendlichen Müdigkeit mischte sich nach und nach auch
Kränklichkeit und schlichte Unlust. Bello hörte dann: „Mir tut alles
so weh, ich gehe heute nicht vor die Tür.“ Aber er durfte immerhin in
den Garten und mit sich selbst spielen. Er probierte neue
Kunststücke, um wenigstens ab und zu noch Herrchens
Aufmerksamkeit und Zuwendung zu erlangen. Vergeblich. Traurig
schaute er durch den Zaun auf andere Spaziergänger mit ihren
Hunden. Wie weit würden sie wohl gehen? Er lief am Zaun ein paar
Meter mit und entdeckte eines Tages, als er sich auf die Hinterbeine
stellte und die Vorderläufe gegen das Gartentor stemmte, dass er die
Klinke einfach herunterdrücken konnte. Das Tor war fast immer
unverschlossen. So lernte Bello ein neues Kunststück. Dieses behielt
er aber für sich. Herrchen interessierte sich bestimmt sowieso nicht
dafür.
Bello wartete von nun an am Gartentor auf andere Herrchen, die ihm
freundlich gesonnen waren. Erst lief er nur bis zur nächsten
Straßenecke mit, später schon bis zum Anfang der Feldwege und
schließlich begleitete er sie auf dem ganzen Weg durch Wald und
Flur. Es war wie in alten Zeiten. Er durfte Stöckchen bringen,
Kunststücke zeigen, lachen, tollen, Abenteuer und Freiheit erleben.
Von Mal zu Mal wich auch das Schuldgefühl, das ihn anfangs
beschlichen hatte, weil er so was doch immer nur mit Herrchen erlebt
hatte. Wie mochte es Herrchen jetzt wohl gehen? War es richtig, dass
Bello sich ohne ihn vergnügte; ihn, dem er ein treuer und
zuverlässiger Begleiter und Beschützer sein wollte?
Herrchens Befinden fand Bello sehr schnell heraus, als er nach einem
Spaziergang schwanzwedelnd zurück in den Garten kam. Er schloss
das Tor hinter sich, drehte sich um und sah Herrchen mit finsterem
Blick in der offenen Haustür stehen. „Wo warst du!“ Das war keine
249Frage. Das war vielmehr eine Drohung und eine Antwort war nicht
erforderlich. Herrchen verschwand im Haus und knallte die Tür
hinter sich zu. Bello stand überrumpelt da. Warum war Herrchen
denn böse? Er wirkte ja so, als hätte Bello ihm sein
Lieblingsspielzeug zerbissen. Hatte er ihm irgendetwas
weggenommen?
Die Tür ging plötzlich wieder auf. Bellos Körbchen flog in hohem
Bogen auf die Veranda und Herrchen fauchte: „Dort ist von nun an
dein Platz. Wie konntest du mich so hintergehen?“ Bello zog den
Schwanz ein und duckte sich. Er hätte gerne mit Herrchen
gesprochen, hätte gerne von schönen, gemeinsamen Stunden erzählt,
aber auch von nicht gehaltenen Versprechen, Bedürfnissen und
Loyalität, hätte Lösungen gemeinsam überlegt und sich zur Not auch
ein Bein für Herrchen ausgerissen, obwohl man auf drei Beinen viel
schlechter läuft. Aber das Laufen … das wollte er trotz allem nicht
ganz aufgeben. Da musste es doch Kompromisse geben.
Während diese Gedanken durch seinen Kopf hin- und herschossen,
hatte Herrchen ihm schon ein Halsband angelegt, es in seiner Wut
ordentlich fest zugezogen und eine kurze Leine mit dem Korb
verbunden. Dann war die Tür erneut zugeknallt. Das war vor vier
Tagen.
"Düster bis Stürmisch"
"Stachels Festungspostille II"