„Darf ich Ihnen hier mal das Haar entfernen?“
Erschrocken bemerkte die junge Frau aus dem Augenwinkel eine Hand, die sich ihrer dunklen Jeansjacke näherte, und fuhr herum. Sie konnte das Lächeln eines Fremden als Quelle der Worte ausmachen, lächelte etwas unsicher zurück und wehrte sich nicht, als dieser charmante Mittdreißiger leichtfingrig eine lange blonde Faser von ihrer Kleidung zupfte, während seine braunen Augen ihre blauen in den Bann zogen.
„Danke“, erwiderte sie schüchtern. Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit merkte, dass sie ihren Blick immer noch nicht aus seinen sanften Zügen lösen konnte, schob sie noch ein „Das ist aber nett von Ihnen“, hinterher.
Er lächelte weiterhin gewinnend, so dass seine nächsten Worte eine Weile brauchten, um sich aus dem Gehörgang einen Weg ins Bewusstsein zu bahnen.
„Das mache ich doch gerne, besonders bei einer so hübschen, jungen Lady.“
An dieser Stelle wurde sie ein kleines Bisschen misstrauisch. Er zog das Haar zwischen den Daumen und Zeigefingern lang und starrte es begeistert an. „Super! Da ist sogar noch die Wurzel dran. Das ist ja perfekt.“
Leichte Panik stieg nun in ihr auf. „Was wollen Sie denn damit?“
„Wissen Sie“, begann der Fremde, „ich bin ausgesprochen froh, dass ich Ihnen begegnet bin. Sie sehen hinreißend aus, sind jung. Auf mich wirken Sie dynamisch und gesund. Sie sind doch gesund, oder? Sie leiden nicht etwa an seltenen Krankheiten, oder?“
„Äh ja, … äh … nein“, stammelte sie, zu verdattert, um einen klaren Gedanken zu fassen.
„Na prima, prima!“, fuhr er freudig fort, hätte beinahe in die Hände geklatscht, aber da war ja noch das Haar, das er hüten musste, wie ein rohes Ei, „Ich werde dieses Haar gleich heute noch gut einpacken und nach China schicken. Vor ein paar Wochen habe ich im Internet dort eine Firma ausgemacht, die Körperzellen extrahieren kann und Clone daraus erstellt. Seitdem bin ich auf der Suche nach einer passenden Spenderin. Welch ein Glück, dass ich Sie heute getroffen habe.“
Der jungen Frau fiel die Kinnlade herunter.
„In etwa einem Jahr wird der Embryo ausgetragen sein und auf die Welt kommen. Dann fahre ich selbst nach China, werde das Kind von der Leihmutter in Empfang nehmen, es direkt adoptieren und mit nach Deutschland bringen, wo ich meine Tochter erst einmal zu einem anständigen Menschen erziehen kann. Sie wird so aussehen wie Sie, ist das nicht toll?“
Sie war unfähig etwas zu entgegnen. Ihre Hand suchte nach Halt, denn die Welt um sie herum begann sich allmählich zu drehen.
„Wenn Sie, … also ihr Clone natürlich, … ich werde die Kleine übrigens „Svenja“ nennen. Ein schöner Name, finden Sie nicht? … Wenn sie also alt genug ist, heirate ich sie. Das sollte problemlos möglich sein, denn wir sind ja nicht verwandt, also rein technisch gesehen … Oh, ich sehe gerade, ich muss hier raus. Einen schönen Tag noch.“
Mit einem Ruck hielt die Bahn an und sofort war der Fremde durch die sich öffnenden Türen in der wartenden Menge auf dem Bahnsteig verschwunden. Der jungen Frau wurde schwarz vor Augen. Sie schlug der Länge nach vor die Füße der einsteigenden Fahrgäste. Der erste stieg mit den Worten „Lass doch die Finger vom Alkohol!“ über sie drüber, dann packten Sie ein paar gnädigere Hände und zogen sie nach draußen, damit sie gleich nicht die Türen versperren und die Abfahrt damit verzögern konnte.
Als die junge Frau eine ganze Zeit später zwischen piepsenden Apparaten erwachte, wurde ein kleines Päckchen mit filigranem Inhalt in einen LKW geladen für eine lange Reise nach Osten.
"Düster bis Stürmisch"
"Stachels Festungspostille III"